Musik wie diese bekommt man meistens in Promoschreiben angepriesen, auf denen die bekannten Namen der drei großen Labels stehen. NEEVE aus Stuttgart spielen nämlich große, zugängliche Popmusik mit authentischen Indie Vibes, die sich jederzeit im Vorprogramm von Sam Fender oder The 1975 behaupten könnte. Zwei Bands, die NEEVE übrigens selbst gerne als Inspiration nennen. Ihr Sound passt sehr gut in eine Zeit, in der die Giant Rooks auf der ganzen Welt ihr Publikum vergrößern und dank TikTok auf einmal sogar Fans in Mexico haben. Man muss nur den Opener „Piece Of Art“ hören, um sich zu fragen, wie zum Henker NEEVE ihr Album „Chaos Of My Mind“ fast komplett im Alleingang eingespielt, produziert, promotet und veröffentlicht haben konnten: Es beginnt mit einem amüsanten Bob-Ross-Intro über einem verspielten Keyboard und dann kommen diese kristallklaren Gitarren, bevor die ganze Band einsetzt und Felix Neyboth mit seiner sehnenden, weichen Stimme die ersten Zeilen singt. So einen Song hört man normalerweise eher auf Alben, die dann von Warner/Sony/Universal zum letzten Mastering für teuer Geld noch einmal in die Abbey Road Studios gereicht werden – und nicht auf einem Debüt, dem man ruhigen Gewissen das „DIY“-Siegel aufs Cover kleben könnte. Aber wer sagt denn, dass DIY nur bei Hardcore-Aggressionen oder Rumpel-Punk funktioniert?
Die großen Labels sind tatsächlich schon auf diese besondere Band aufmerksam geworden, aber das klären wir später. Erst einmal ein paar Hardfacts, die vielleicht schon zeigen, dass dies Band besonders ist.
NEEVE (bitte Englisch aussprechen) erlauben zum Beispiel ein Namedropping der besonderen Art. Und wir wissen ja alle, dass eine Bandbiografie wie diese nicht ohne auskommen darf. Unter einem gewissen Blickwinkel sind NEEVE ein wenig wie The National, lange nicht so toxisch wie Oasis, ähnlich verstrickt wie die Kings of Leon und das Doppelte der Kinks. Bevor jetzt aber jemand das Referenzkarussell anwirft und sich ausmalt, wie zum Henker das denn klingen würde, hier ein paar aufklärende Worte: NEEVE sind mit ihrem charismatischen Indie- und PopSound schon sehr eigenständig unterwegs – das Besondere an der 2018 gegründeten Band ist, dass sie wie all die zuvor genannten Acts, familiär eng verwachsen ist und gleich aus zwei Brüderpaaren besteht, die zudem als Cousins verbunden sind: Felix Seyboth (Gesang, Drums) und Axel Seyboth (Produktion, Piaon, Gitarre) und Marius Spohrer (Gitarre) und Philipp Spohrer (Bass). „Wir haben das erst gar nicht als so besonders oder besonders wichtig empfunden“, erzählt Felix, „wurden dann aber immer wieder drauf angesprochen. Dieses Familiäre sorgt einerseits dafür, dass du sehr ehrlich und direkt bist. Wir kennen uns das ganze Leben lang, sehen uns drei bis viermal die Woche, haben schon als Kinder Musik gemacht, sind mit ähnlichen Lieblingsbands aufgewachsen. Musik ist für uns alle etwas sehr Persönliches.
Es geht um Emotionen, Wahrnehmungen, Gefühle und Reflexion – das schweißt uns extrem zusammen, macht es aber auch sehr sensibel.“ Der Bandname NEEVE sei deshalb auch als „gemeinsamer, fiktiver Familienname“ zu verstehen, den man sich 2018 zulegte. Keine schlechte Wahl: Denn das Wort klingt rund, macht sich in der richtigen Typo gut auf Shirts und Jutebeuteln, und der Wortursprung geht auf das altfranzösische Wort „neveu“ – übersetzt: „Neffe“ – zurück.
Der zweite Song des Albums fängt diese „sensiblen“ Momente zwischen zwei hochkreativen Brüdern sehr schön ein. „This Got Me Staying“ heißt er und ist quasi ein Zwiegespräch zwischen dem älteren Bruder (Felix) und dem jüngeren (Axel): „Just tell me about it / are you done with mocking me? / Ah, you try to be rude / but it’s not about you / can’t you see?“, singt Felix darin am Anfang. Die Musik dazu klingt ein wenig als hätte es ein britisches Indie-Königstreffen zwischen The 1975 und den Glass Animals gegeben – unter der künstlerischen Leitung von Robert Smith. Felix ist der ältere der beiden Brüder, die Stimme, der Texter und ein wenig auch das Gesicht der Band, Axel wiederum produziert die Musik von NEEVE und hat sich inzwischen Skills draufgeschafft, die jedes Demo schon so wuchtig klingen lassen, wie es manchmal nicht mal teuer einzukaufende Produzent:innen hinkriegen. „You Got Me Staying“ funktioniert dabei aber auch als klassischer Love-Song. „Mich reizt am Songwriting, doppeldeutig und anschlussfähig zu bleiben. Ich verarbeite schon sehr persönliche Dinge, versuche aber immer, sie so zu texten, dass sich andere mit ihren eigenen Erfahrungen einfühlen können.“
Und das können inzwischen sehr viele Menschen: Denn NEEVE mögen Musik spielen und schreiben, die auch auf sehr großen Bühnen funktionieren würde, aber sie sind auf eine Weise nahbar, die nicht viele Bands schaffen. Was dann über Bande gespielt wieder zu der Einstiegsfrage führt, warum sie gerade den Alleingang mit einem engen Kreis an Vertrauten wagen. NEEVE waren durch die Pandemie wie viele Newcomer:innen ausgebremst und konnten sich nicht da behaupten, wo sie ebenfalls eine sehr gute Figur machen: auf der Bühne. Also suchten sie ihr Publikum auf ihre Weise, erst über Instagram und dann immer erfolgreicher über TikTok: Dort haben sie inzwischen knapp 300.000 Follower:innen und 3 Millionen Likes gesammelt. Einer ihrer letzten Posts war zum Beispiel ein kurzes Live-Video von ihnen, in dem auf einmal eine junge Frau begeistert aufkreischt, und dazu dasWording: „POV: Du suchst nach deiner neuen Lieblingsband, die Konzerte für nur 20 Euro Eintritt in deiner Stadt spielt, ein wenig wie die Kooks aussieht, aber ein bisschen mehr den Harry Styles-Style hat und dabei klingt wie eine sommerliche Version von The 1975 und The Neighborhood? Here we go! We are on your FYP and this is your sign to follow us.“ NEEVE geben auf TikTok dezent ironisch Einblicke in den Struggle eines Newcomeracts, machen Live-Talks zum Thema Mental Health, kopieren TikTok-Trends mit ihrem eigenen Twist, verlinken sich mit Bands, die sie verehren – und sie haben einen erstaunlichen Output, der dann eben von TikTok entsprechend belohnt wird. Felix gibt zu, dass die Idee erst „aus
Verzweiflung heraus entstanden ist, weil es bei Instagram immer schwerer wurde, gesehen zu werden.“ Aber dann habe bei TikTok nach und nach mehr gezündet – und vor allem: Die Leute sprangen auf ihre Musik an.
Ein Clip mit einem Snippet aus „Where I Wanna Be Found“ zum Beispiel ging durch die Decke – und plötzlich knackten auch die Spotify Streams die Millionengrenze. Wobei sich hier schon ein interessanter Fakt zeigt: Die mit Abstand meisten Hörer:innen haben NEEVE in den USA. Dann kommt Deutschland, dann UK, dann Mexiko.
Ein Themenaspekt, der oft auftaucht in ihrer Musik und ihren TikToks ist der offene Umgang mit Mental-HealthThemen: Der Clip, der so durch die Decke ging, hatte nämlich das Wording: „When you’re in a band with your brother and your two cousins and you desperately try to reach the right audience with Indie-Pop music about mental health and toxic masculinity.“ Die Band habe Felix immer dabei unterstützt, Themen wie diese in ihre Musik einzubringen, erzählt er. „Ich bin ein Mensch, der Bestätigung braucht und meine erste Anlaufstelle sind nun mal die Jungs. Als ich die ersten Texte über meine ADHS-Diagnose oder meine Panikattacken schrieb, haben wir sehr intensiv darüber gesprochen. Ich weiß einfach, dass sie mich am ehesten verstehen. Es ging aber auch darum, wie ein Satz wirkt, ob man einen Zugang hat, wenn man nicht davon betroffen ist und solche Fragen. Irgendwie war es mir ein Anliegen, darüber zu singen. Warum soll ich mir Themen aus den Fingern saugen oder Stories erfinden oder auf Friede, Freude, Eierkuchen machen, wenn es das ist, was in meinem Leben vorgeht?“ Das Album hieße schon ‚Chaos Of My Mind‘ weil er eben versuche, diese Chaos durch diese Songs zu verarbeiten, verstehen und zu reflektieren. Felix schreibt aber auch sehr berührende Texte über andere Menschen, die ihm nahestehen. „Pieces That She Broke“ zum Beispiel ist ein Lied über eine Freundin und ihren Kampf mit Essstörungen. „Go On Then“ wiederum reflektiert eine Beziehung, die auf der Stelle tritt und versucht mit einem majestätischen Gitarrenpart im Refrain aus dem Stillstand auszubrechen.
Über TikTok und über Instagram erreichen Felix wegen solcher Songs zahlreiche Nachrichten – die von der Band übrigens alle beantwortet werden. Und damit sind wir bei einem weiteren Geheimnis ihres schon recht gut messbaren Erfolgs: Commitment. Felix erzählt: „Wir waren letztens bei einem großen Label, die uns signen wollen. Da saßen ein Dutzend Leute, man applaudierte unseren Songs und wir hatten schon kurz so dieses kleine Triumph-Gefühl von: ‚Wir Dullis, die mit 15 und 16 Mucke gemacht haben, werden jetzt auf einmal hofiert‘.“ Aber dann sei ihnen noch einmal klar geworden: „Wir haben uns selbst in diese Position gebracht. ‚Where I Wanna Be Found‘ haben wir schon vor zwei Jahren als Demo rumgeschickt. Da hieß es dann, unser Sound zwischen Indie und Britpop sei gerade nicht gewünscht und überhaupt, wollten wir nicht lieber auf Deutsch singen?“ Mit diesem Album habe sich die Band also auch selbst einen ersten Meilenstein gesetzt: „Wir haben uns den Release-Druck gemacht. Wir waren das. Wir haben unsere Leidenschaft und unsere Lust auf diese Musik zu einer kleinen Maschinerie gemacht, die sehr gut funktioniert.“ Deshalb wolle man zumindest dieses Album noch selbst herausbringen, obwohl es Angebote gab. „Wir wollten nicht diese Basis verlieren. Das klingt vielleicht ein wenig cheesy, aber dieses Commitment bei allen von uns ist das Herz dieser Band. Deshalb sind wir da, wo wir sind. Weil wir aus der Not gedrungen alles selbst machen mussten, aber immer ein Ziel vor Augen hatten, sind wir jetzt so autark wie wir sind: Der eine macht Grafiken, der andere hockt sich an 40-Grad-Sommertagen ins Studio und mixt wie verrückt, einer sitzt zuhause und macht 50 Tiktoks die Woche, einer macht Werbeanzeigen, wir printen unser Merch selbst und ich schreibe noch immer allen Leuten, die mir schreiben.“ Man sehe zwar auch, dass irgendwann der Punkt kommt, wo man nicht mehr alles schafft, aber: „Das Album ist eine gute Zusammenfassung von dem was bisher passiert ist. Von den Lyrics, von der DIY-Art, von allem. Und ich finde es ganz cool, zusagen: Das erste Album machen wir jetzt selbst und dann kann man sich immer noch entscheiden, ob man das größer spielt. Ich finde es interessant, das selbst zu stemmen.“
Es ist NEEVE natürlich zu wünschen, dass ihre Karriere bald so in Fahrt kommt, dass sie das alles nicht mehr alleine wuppen können – weil noch mehr Menschen auf der ganzen Welt diese zwölf Lieder lieben lernen oder ihre mitreißenden Shows sehen, bei denen man schnell feststellt, dass die vier auch so gut aussehen, wie sie klingen. Aber TikTok hin oder her: Für einen nachhaltigen Erfolg – egal in welcher Kampfklasse – braucht es immer noch Songs, die dieser Aufgabe gewachsen sind. „Chaos Of My Mind“ hat genau diese. Neben den bereits genannten und hier recht hymnisch besungenen, gibt es zum Beispiel auch noch die wirklich sehr Harry-Stylesstylische Ballade „I’m So Cold“, das mit Suede-Grandezza erklingende „You & Me“ aus dem auch der Albumtitel stammt oder den wunderbaren Closer „Why Not Myself“ mit einer Gitarre zum Niederknien und einem Felix, der hier mal ein wenig tiefer und langsamer singt, was auf den letzten Minuten noch einmal eine ganz andere Welt aufmacht. Felix blickt zurecht mit einem gewissen Stolz auf „Chaos Of My Mind“: „Ich mag diese 12 Songs sehr. Es gibt einige, die für unseren zukünftigen Sound stehen, wie ‚Green‘ zum Beispiel. Da mag ich die Metapher, den Sound und auch die Tatsache, dass ich in den Lyrics mit mir hart ins Gericht gehen. Ich mag, dass unser Album dancy ist, obwohl es auf Bandsound und Gitarre und Drums setzt. Und ich mag es, wie wir diesen Indie Pop Vibe mitnehmen, aber auch ein paar Balladen haben.“ Tatsächlich sind damit alle Facetten dieser spannenden jungen Band auf „Chaos Of My Mind“ sehr gut eingefangen – und sie zeigen ein Potential, das man auf einem Debüt in dem Maße selten findet.